Über Madeleine, Benjamin und ihr Projekt Bracenet, basierend auf einem Interview mit Benjamin Wenke im April 2018.

Fischernetze, welche verloren gegangen sind oder absichtlich versenkt wurden, stören nicht nur das Strandambiente oder den Tauchgang. Sie betreiben sogenanntes „ghost fishing“: Fische, andere Meerestiere und sogar Seevögel verfangen sich in den Netzteilen und können sich oft nicht mehr daraus befreien. Das Material der Netze ist darauf ausgelegt, im Wasser fortzubestehen und löst sich erst nach hunderten von Jahren in
das ebenfalls gefährliche Mikroplastik auf.

Zwei Wahl-Hamburger haben innerhalb weniger Jahre die Aufmerksamkeit auf das Phänomen dieser sogenannten Geisternetze gelenkt. Sie wollen auf das Problem aufmerksam machen und haben dafür das Bracenet entworfen – ein Armband aus einem Stück Geisternetz. An den Ursprung der Armbänder erinnert nicht nur das Wortspiel mit den englischen Begriffen „Bracelet“ (Armband) und „net“ (Netz). Auch die Knoten in den Armbändern erinnern daran, denn sie sind eben die Knoten, welche das Netz zusammen gehalten haben.

Angefangen hat das Projekt Bracenet für Madeleine und Benjamin vor der Küste Ostafrikas. Beim Tauchen, aber auch am Strand selbst wurden sie mit Geisternetzen konfrontiert.
Würde es ausreichen, den Zustand zu dokumentieren und öffentlich an den Pranger zu stellen? Madeleine und Benjamin wollten mehr. Sie wollten etwas, das ebenso nachhaltig und beständig wie die Netze ist. Ich habe die beiden in Hamburg besucht, um mehr über ihr Projekt und ihre Motivation zu erfahren.

Sonne vom allerfeinsten begrüßt mich in Hamburg und begleitet mich bis zum großen Altbau, in dessen obersten Stock ich mit Benjamin von Bracenet verabredet bin. Es stellt sich heraus: das hier ist Wohn- und Arbeitsraum zugleich. Wand an Wand mit dem hellen Wohnzimmer, in dem Benjamin mir mehr über sich, Madeleine und das Projekt erzählt, ist das ehemalige Gästezimmer, jetzt das Büro von Bracenet. Hier wurden in den letzten zwei Jahren ungefähr zwei Tonnen alter Fischernetze zu schicken Armbändern gemacht. Ich trage ein solches Bracenet und komme aus dem Staunen nicht heraus, als ich die Zahl höre; Das Armband ist super leicht, wieviele muss man wohl herstellen, um zwei Tonnen Material zu verarbeiten?

Benjamin ist alles, was man sich von einem Interviewpartner wünschen kann; offen und lebhaft erzählt er begeistert von seiner Arbeit und hat sogar eine Präsentation zur Hand. Ich merke, ich bin nicht die einzige, welche sich in der letzten Zeit für die beiden und ihren Beitrag zum Meeresschutz interessiert. Schade nur, dass Madeleine nicht bei unserem Treffen dabei sein kann.

Wichtig ist nicht allein, dass die Netze genutzt werden, wie mir Benjamin erklärt. Besonders wichtig ist, dass man erkennt, was da um das Handgelenk liegt. So werden Menschen auf Bracenet und damit auf die Geisternetze aufmerksam, welche noch nichts davon wussten. Das Projekt lebt von Mund-zu-Mund Propaganda, bekannten Promotern wie Matthias Schweighöfer, Rheinhold Messner oder dem Taucher Guillaume Néry. Vor kurzem sprachen vier Influencer von Youtube über das Projekt. Achtung Wortspiel: Das Projekt um die Geisternetze vernetzt sich wie von Geisterhand selbst. Auch Condor, Austrian Airlines, Microsoft, Telekom, Lufthansa und einige mehr zählen inzwischen zu Bracenet’s Partnern.

2015, Ostafrika, die Idee Bracenet wird geboren.
Ein Netz, das über dem Handgelenk liegt – klar, daraus kann man ein Armband machen! Und dann nimmt man zwei englische Begriffe zusammen, schon steht der Name. Das ganze Konzept ist bereits nach einer Stunde fertig, die restliche Zeit verbringen Madeleine und Benjamin damit, Netze zu sammeln. Schließlich werden die Sommerklamotten im Dorf verschenkt, um in den Rucksäcken Platz für die Fundstücke zu machen. Sowohl am Abflugs- als auch am Zielflughafen werden die beiden aufgrund ihrer ungewöhnlichen Fracht herausgewunken und befragt.

2016 findet ein Treffen mit der Organisation Healthy Seas in den Niederlanden statt. Für diese und die Ghostfisher, ehrenamtliche Taucher*innen der Ghost Fishing Foundation, einer internationalen Kooperative und ebenfalls Partner von Healthy Seas, haben sich die beiden entschieden, weil sie nicht nur gelegentliche Kampagnen fahren, sondern regelmäßig an den Wochenenden nach Netzen tauchen. Gleich beim ersten Treffen ist klar, dass das eine gute Wahl war. „Es hat sofort gefunkt“, wie Benjamin sagt. Sofort gibt es die ersten gereinigten Netze, die erste Lieferung wiegt ca. 800 kg, in einem großen Sack komprimiert. Als der erst einmal offen ist, ist auch der Raum voll. Eine Woche nach dem Treffen fahren die beiden Bracenet-Gründer schon mit hinaus, um Geisternetze einzusammeln. Alles in allem sind es bereits rund 150 ehrenamtliche Taucher*innen, welche weltweit, besonders aber im Mittelmeerraum und ab Mai auch wieder in Nordsee und Ostsee Geisternetze bergen. Wann immer sie es einrichten können, sind Madeleine und Benjamin mit dabei. Bracenet ist ein großartiges Kommunikationstool, um auf Geisternetze aufmerksam zu machen und Spenden für Healthy Seas zu generieren. So konnte beispielsweise im September 2017 ein weiterer Scheck von über 7150 € überreicht werden. Obwohl die Taucher*innen Ehrenamtliche sind, kosten die Fahrten natürlich Geld. Nun tragen die 10 %, welche vom Erlös jedes verkauften Bracenets an Healthy Seas gehen, dazu bei.

Zwei Ziele:
Bergung und Prävention von Geisternetzen

Ein weiterer Partner von Bracenet ist Nofir, eine norwegische Firma welche die Netze – ohne chemische Zusätze! – reinigt, sortiert und aufbereitet. Besonders wichtig ist für mich zu hören, dass die Netze nicht nur von Bergungsfahrten, sondern auch von Fischereibetrieben und besonders in Norwegen von Aquakulturen zu Nofir kommen. So ist das Upcycling von alten Netzen scheinbar nicht nur ein Anliegen von um die Umwelt besorgten Menschen, sondern auch der Betriebe, welche die Quelle der Netze sind. Ein Bestreben sei, so viele Netze wie nur möglich aus den Meeren zu bergen, sagt Benjamin. Doch ein anderes Bestreben ist Prävention, denn wenn keine weiteren Netze ins Meer gelangen, müssen weniger geborgen werden. Eine Entwicklung an der wichtigsten Stellen ist zu beobachten.
Fischernetze bestehen oft aus HDPE Kunststoff, Polyethylen mit hoher Dichte, auch Hart-Polyethylen genannt. Wer im Chemieunterricht aufgepasst hat, kann sich vielleicht herleiten, wie aus Wasser- und Kohlenstoff ein extrem wiederstandsfähiger Kunststoff wird. An dieser Stelle ist jedoch wichtig, dass es weiche und härtere Netze gibt. Die weicheren Netze werden oft nachträglich behandelt, um in Aquakulturen zu funktioneren. Sie können nicht zu Bracenets verarbeitet werden. Die Grundlage für die Armbänder sind unbehandelte Fischernetze, welche also auch nicht gefärbt werden. So kommt es, dass beispielsweise die ersten blauen Bracenets, genannt „Arctic Ocean“, nicht „nachproduziert“ werden. Der Gedanke hat für mich etwas schönes, bedeutet er doch auch, dass es keinen Endlosvorrat an Geisternetzen aller Art gibt. Der nicht zum Armband zu verwertende Teil – der Großteil – wird zu feinem ECONYL® Garn verarbeitet und findet unter anderem Verwendung in der Textilindustrie. Teppiche, Sonnenbrillen oder Bekleidung sind einige der Dinge, welche daraus hergestellt werden können.

2017 werden neue Produkte wie Sweatshirts, Schlüsselanhänger und Taschen angeboten. Der Onlineshop ist zwar auf Europa, Norwegen und die Schweiz begrenzt, doch Bestellungen kommen aus aller Welt, viele aus den USA. Die Menschen hinter Bracenet sind selbst erstaunt, wie weit sich das Projekt verbreitet hat. Nicht nur von Menschen an der Küste, welche vielleicht selbst Netze einsammeln, wird das Armband bestellt, auch aus dem Landesinnern, wo das Problem nicht direkt vor Augen ist. Vielleicht, weil es einen gewissen Fernwehcharakter hat, so Benjamin.

Und jetzt, 2018 sind neue Kooperationen geplant; Unter anderem wurden Hundeleinen und Surf Leashes angefragt und sind in Entwicklung. So findet das Phänomen Geisternetz Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Communities.

Aus einem erkannten Problem wird
ein organisch wachsendes, „groß skaliertes Hobby“

Da die Nachfrage steigt und steigt, findet mittlerweile ein Teil der Verarbeitung der gewaschenen Netze in Kooperation mit zwei Werkstätten für Menschen mit Behinderungen in Duisburg und Neumünster statt. Manche der Bracenets werden dort schon komplett angefertigt. Aber bei anderen findet die Endbearbeitung, das Löten und Befestigen der Magnetverschlüsse aus Edelstahl, sowie der administrative Arbeitsteil noch immer ganz nah an den Gründern, im Gästezimmer von Madeleine und Benjamin statt. Wer weiß, wie lange noch, immerhin wächst das Projekt, welches als Hobby gestartet ist, immer weiter. Und was ist es jetzt? „Ein groß skaliertes Hobby“, so Benjamin und lacht. Es fühle sich nicht nach Arbeit an, einen Businessplan für die nächsten fünf Jahre gäbe es auch nicht. Dann folgt ein kleiner Exkurs über Start-Ups. Es gibt die, die eine Nische suchen, welche Sinn ergibt und finanziellen Erfolg verspricht. Und dann gibt es die, die einen anderen Hintergrund haben: ein Problem sehen und etwas dagegen tun möchten. Zu diesen Start Ups zählt Benjamin auch Bracenet. Investoren fragen an, aber das Projekt soll „organisch wachsen“ können. Madeleine und Benjamin sind beruflich im Marketing beheimatet. Mit Bracenet, so erzählt Benjamin, machen sie aber alles anders als gelernt. Das Projekt ist ein Selbstläufer und lebt davon, dass Menschen die Geschichte der Geisternetze weitergeben wollen.

Dabei sind Madeleine und Benjamin laut eigener Aussage nicht die begabtesten Bastler. Als zu Beginn unerwartet viele Anfragen kamen, halfen Familie und Freunde aus und es fiel auch auf, dass es da ein paar gibt, denen es leichter von der Hand geht. Benjamin erzählt amüsiert davon, nicht als sei er in seinen neu erworbenen Handwerkskünsten gekränkt. Viel wichtiger sei, dass es Spaß macht. Wenn man das Endprodukt sieht und weiß, dass man etwas Gutes tut. In der Schule entschied sich Benjamin noch gegen Werkeln und kochte lieber, heute ist das anders.

Die Begeisterung für eine andere Tätigkeit, welche zu Bracenet beiträgt, hat Benjamin schon länger: mit 15 Jahren hat er mit dem Tauchen angefangen. Er erklärt es mir als eine Entwicklung mit mehreren großen Schritten. Zu Beginn geht es noch um die Atmung und der Fokus liegt beim Taucher oder der Taucherin selbst. Später dann auf der Umgebung. Und zuletzt kommt es dazu, unter Wasser zu „werkeln“, die Netze loszuschneiden. Die ganz großen müssen mit einem Kran aus dem Wasser geholt werden. Eine große Wand, die sich auf macht und nach oben gezogen wird, so beschreibt er es.

Wie man an der Zusammenarbeit von Fischereibetrieben und Nofir sehen kann, ist Präventivarbeit in Form von Aufklärung wichtig für den Kampf gegen Geisternetze. Diese leisten auch Madeleine und Benjamin, so beispielsweise 2017 auf dem Schülerkongress „MeerKlima entdecken“ in Hamburg, ca. 650 Schüler*innen bekommen Bracenets als Eintrittsbänder. Die Beiden werden von Unternehmen angefragt, etwas über Nachhaltigkeit zu erzählen. Mit dem Bundesministerium für Forschung und der Körber Stiftung wird die Suche nach alternativen Netzmaterialien angekurbelt. Eine weitere Idee ist GPS Tracking von neuen Netzen, um diese wiederfinden zu können. Auch hier hat Bracenet die Funktion, die richtigen Leute zu vernetzen.

Madeleine und Benjamin sind laut eigener Aussage keine Spezialisten auf dem Gebiet und auch keine „Ultra-Ökos“. Schwarz-Weiß-Denken lehnen sie ab, sehen sich eher dazwischen. Es geht nicht darum, andere zu belehren. Umso schöner das Feedback, wenn ein Bracenet im Alltag zur Gedankenstütze wird, doch noch das Licht auszumachen oder nicht beim Großunternehmer mit fragwürdigem Hintergrund einzukaufen. Benjamin sagt, er habe den positiven Eindruck, bei vielen Menschen sei ein Schalter umgelegt. Und dass die Bracenets dabei helfen. Wie aber geht man mit den Menschen um, die ganz klar anders priorisieren? Benjamin setzt auf 1:1 Feedback und erzählt von der boot 2017, einer Messe in Düsseldorf. Er sagt, teilweise hätten Kinder mehr verstanden als ihre Eltern. Aber die Fakten und Bilder hätten dann doch die meisten überzeugen können. Man muss sich also „nur“ etwas Zeit nehmen.

Was nun, wenn man beim nächsten Urlaub am oder im Meer ein Netz findet? Für den Sommer soll eine Zweigstelle eingerichtet werden, an welcher die Netze gesammelt werden können. Aber laut Benjamin ist selbst die nächste Mülltonne besser, als das Netz liegen zu lassen. Und da bin ich ganz auf seiner Seite.

Natürlich sind den beiden auch andere Umweltthemen wichtig, Benjamin möchte am liebsten sagen: „Kümmert euch um alles, nicht nur um die Meere!“ Es muss aber doch jeder sein Thema finden, für das er sich engagieren kann und möchte. Für Madeleine und Benjamin verbinden sich mit den Bracenets Interesse und Idee.

„Kein Strand“ ist keine Ausrede

Und Benjamin sagt noch etwas, was mir im Kopf bleibt: „kein Strand“ sei keine Ausrede. Als sie während eines Beach Clean Up Days in Berlin waren, zogen sie es als City Clean up in der Nähe von Flüssen auf. Fischernetze finden sich vor allem am und im Meer, stammen sie doch von Fischereibetrieben. Andere Plastikteile jedoch stammen nicht nur von der Küste. Gelangt eine Mülltüte in den Fluss, kann sie auch ins Meer kommen.

Was ich noch mitnehme aus dem Gespräch? Begeisterung für das Projekt. Anfangs hatte ich Zweifel, wie nachhaltig es tatsächlich ist. Ob sich Menschen nicht mit einem Bracenet „rauskaufen“ könnten, aus der Verantwortung. Aber Benjamin scheint ehrlich überzeugt davon zu sein, dass Menschen durch ein Bracenet langfristig zu Nachhaltigkeit finden können. Und andere auf den Weg bringen. Es ist ein schneller Aufhänger für ein Gespräch. Und solange Geisternetze im Wasser sind, sollten sie auch im Gespräch sein. Ich hoffe, dass Bracenet eines Tages das Material ausgeht und bin bis dahin gespannt, wohin es mit dem groß skalierten Hobby geht.

Was erinnert Dich im Alltag daran, Dich für die Umwelt einzusetzen? Was ist Dein Bracenet? Schreib es mir, ich bin gespannt.

Hier geht’s zur Bracenet Seite. Viel Spaß beim Stöbern!